Übersetzer aus Indien und Studenten als Korrektoren

Vor einiger Zeit hatten wir eine Anfrage eines größeren Unternehmens, dessen Name allen Lesern (wer liest eigentlich diesen Blog?) bekannt ist. Um das Unternehmen nicht zu blamieren und weil dies schon unser Berufsethos verbietet, wird der Name nicht genannt. Der Mitarbeiter dieses Konzerns teilte mir mit, daß man dort Englisch-Übersetzungen in Indien übersetzen lasse und hierfür Korrektoren suche.

Indien – unter 0,02 Prozent Englisch-Muttersprachler!

Indien ist, wie allgemein bekannt ist, ein großes Land mit über 20 Muttersprachen, darunter z.B. Hindi, Urdu oder Bengali. Das Englische ist neben Hindi Amtssprache von Indien. Als Muttersprache beherrschen lediglich 226.449 Menschen die englische Sprache (Quelle: Census 2001), also weniger als 0,02 Prozent der Bevölkerung. Der Rest der Inder lernt Englisch – wie auch wir in Deutschland – in der Schule als Fremdsprache. In Deutschland leben, das weiß ich, seitdem ich die Diplomarbeit meiner ältesten Tochter gelesen habe, mehr englische Muttersprachler, nämlich im Jahre 2011 genau 241.352 aus Großbritannien, Amerika, Kanada, Australien, Neuseeland, Irland und Südafrika (Quelle: Statistsisches Bundesamt) gegenüber den 226.449 Indern, die Englisch als Muttersprache sprechen und in Indien leben.

Knapp 226.000 Menschen wohnen auch in der schönsten Stadt Deutschlands. Es gibt – grob geraten – ca.  30 Übersetzer in Freiburg, die größtenteils ein Studium oder eine andere Qualifikation als Übersetzer haben.  Der Übersetzer-Anteil der 226.449 englischsprachigen Inder (in Indien), die sich als Deutsch-Übersetzer qualifiziert haben, dürfte nicht höher sein.

Dennoch scheinen viele Menschen in Deutschland zu glauben, daß in Indien englisch gesprochen wird wie in Großbritannien, Amerika oder Australien. Dieser Irrglaube führt dann zur Annahme, Übersetzer in Indien seien genau so gut wie Übersetzer aus England, Schottland oder Kanada, nur viel billiger. Viel billiger stimmt natürlich, aber sie sind in der Regel auch viel schlechter, denn an die oben grob geschätzten 30 echten muttersprachlichen Übersetzer in Indien dürften die wenigsten Auftraggeber gelangen.

Studenten als Korrektoren finden nur wenige Übersetzungsfehler

Dies hat man bei dem anfragenden Unternehmen erkannt. Die Übersetzungen seien mangelhaft und müßten verbessert werden. Das konnte ich nachvollziehen. Nicht aber, daß die fehlerhaften Übersetzungen aus Indien nicht von erfahrenen Fachübersetzern verbessert werden sollten, sondern von Studenten! Ich glaubte, nicht recht verstanden zu haben und war im ersten Moment völlig perplex. Eine mit Fehlern behaftete Übersetzung eines Nichtmuttersprachlers sollte von einem absoluten Anfänger geprüft und korrigiert werden?! Ich versuchte, dem Konzermitarbeiter diesen Unsinn aus dem Kopf zu schlagen. Wer eine unprofessionelle Übersetzung von einem Studenten aus Germersheim, Heidelberg oder Leipzig (dies sind einige der führenden Fakultäten für Übersetzungswissenschaften) verbessern läßt, wird ein nur geringfügig besseres Ergebnis erhalten. Übersetzerstudenten werden sicher ein paar Fehler erkennen können, doch mindestens ebenso viele Fehler übersehen und neue Fehler in die Übersetzung einbauen. Frischgebackene Diplom-Übersetzer (bzw. Bachelor- oder Master-Absolventen) sind keine Korrektoren, und Studenten schon gar nicht!

Leider hat der Mitarbeiter des großen Unternehmens abgewunken. Das Budget lasse keine professionellen Übersetzer zu, so daß man sich mit Studenten behelfen müsse. Armes Deutschland!

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.